Die Rekursion und …
Führungspersonen, und an diese richtet sich diese Kolumnenserie in erster Linie, übertragen dem Mitarbeiter Computer Aufgaben, die ohnehin zu bewältigen sind. Damit eine reelle Entlastung bzw. möglichst viele Synergien sich einstellen können, müssen die Unterschiede bei den Fähigkeiten zwischen Menschen und Computern beachtet werden. Für den Computer sind möglichst lange Sequenzen ideal, welche er möglichst oft und ungestört nach immer demselben Ablaufschema vollziehen kann. Computer blühen in der Routine auf. Für den Menschen hingegen sind all jene Arbeiten bestimmt, welche diesem Standardablauf vor- oder nachgelagert sind und welche nicht vereinheitlicht werden können. Sie benötigen eine individuelle, unmittelbar der Situation angepasste Bestandsaufnahme und einen anschliessenden individuellen Entscheid bezüglich der optimalen Arbeitsdurchführung. Eventuell lassen sich daraus neue Sequenzen ableiten, die dann wiederum dem Computer übertragen werden können. Seit ich meine erste kommerzielle Computeranwendung erstellt habe, ist mir klar gewesen, dass es ein übergeordnetes systemisches Konzept gibt, dem ich mich immer wieder untergeordnet habe. Ich habe es lange gesucht. Finden und benennen konnte ich es erst über 30 Jahre später, nämlich Ende des letzten Jahres, 2020. Dieser machtvolle und stets wiederkehrende (sic!) Prozess ist die perturbierte Rekursion, die der dänische Semiotiker Peter Bøgh Andersen (1945 – 2010) abgeleitet und die der deutsche Soziologe Dirk Baecker (*1955) in seinem Buch „Wozu Theorie?“ referenziert hat. Es läuft eine Rekursion ab: Eine Rekursion ist der wiederholte Aufruf von demselben Elementbezug oder wie es im Gabler-Wirtschaftslexikon steht das „… formales Prinzip, demzufolge bei der Beschreibung eines Sachverhalts auf den zu beschreibenden Sachverhalt selbst Bezug genommen wird.» Diese Rekursion wird von aussen her gestört oder eben perturbiert. Störungen können sowohl positiver wie auch negativer Natur sein. Sie können bezüglich ihrer Wirkungsform gar vom Standpunkt des Beobachters abhängig sein. Aus diesem Grund braucht die Rekursion intern einen Entscheidungsbaustein, der bestimmt, wie sich die eigentlich geschlossene Rekursion gegenüber dem Einfluss aus der Umwelt verhalten muss. Als minimale Aktion ist das Ignorieren dieses Einflusses vorzusehen, was aber nicht effektiv ist. Das Ziel jeder Digitalisierungsaufgabe ist so das Auffinden einer möglichst lang andauernden Rekursion mit möglichst wenig unbekannten Perturbationen oder Störungen.
… ihre Macht
Die einzelne Regel eines Rekursionsschritts ist detailliert anzuschauen und zu definieren. Die Wiederholungen, also die massenweise und hoffentlich möglichst lang andauernde Ausführung, übernimmt der Algorithmus, der unter Auswertung der aus der Umwelt kommenden Einflüsse, Perturbationen oder Störungen, die Rekursion am Laufen hält und steuert. Damit bekommt die Rekursion eine grosse Macht, denn sie kann immer wieder auf unterschiedliche Ausgangslagen angewendet werden. Und leider ist diese Macht sowohl positiv wie auch negativ anwendbar.
Der Versand von Spam, also unverlangte massenhaft verbreitete Werbe-Mails, sowie von Fake News sind negative Einsatzformen von Rekursionen. Aber auch Cyberangriffe basieren auf der Macht der Rekursion, in kurzer Zeit möglichst viele Anfragen an ein Computersystem zu senden bzw. über massenhaft produzierte Passwortvarianten ins System eindringen zu können. Automatisierungsaufgaben, insbesondere von eintönigen, sich wiederholenden und fehlerhaften Tätigkeiten sind eine positive Ausnutzung der Macht von Rekursionen. Aber auch die Auswertung von Daten und das unermüdliche Ausführen von Beobachtungsaufgaben, die der Mensch infolge eines Aufmerksamkeitsdefizits nie so dauerhaft machen kann wie ein Computersystem. Auch Suchen und Sortieren basieren auf den positiven Machteffekten.

Modellbildung
Gemäss dem Soziologen Armin Nassehi (*1960) bedeutet die Digitalisierung die Verdoppelung der Welt in Datenform. Man braucht dazu datenförmiges Material etwelcher Art aus Begebenheiten in der realen Welt, diese Daten werden dann zueinander in Beziehung gesetzt bzw. es werden daraus neue Daten berechnet. Am Schluss müssen diese Resultate in sinnvolle Informationen für die reale Welt zurückübersetzt werden.
Bei dieser virtuellen Verdoppelung der Welt können, wie bei jeder Modellbildung, nicht alle Aspekte berücksichtigt werden. Es müssen immer Kompromisse eingegangen werden. Der deutsche Mathematiker Herbert Stachowiak (1921 – 2004) benennt in seiner allgemeinen Modelltheorie drei wichtige Merkmale eines Modells:
- Das Abbildungsmerkmal zeigt auf, dass Modelle stets Abbildungen oder Repräsentationen von natürlichen oder künstlichen Originalen sind. Diese können selbst wieder Modell sein.
- Das Verkürzungsmerkmal zeichnet sich dadurch aus, dass nicht alle Eigenschaften des repräsentierten Originals erfasst werden können, sondern nur diejenigen, die den Modellschaffern oder -benutzern relevant erscheinen.
- Modelle erfüllen gemäss dem pragmatischen Merkmal stets eine bestimmte Ersetzungsfunktion und sind ihren Originalen nicht eindeutig zugeordnet. Betrachtete Zeitintervalle oder aber auch gedankliche oder tatsächliche Operationen können, bezogen auf die Modelleigenschaft, momentane Einschränkungen auslösen.
Im Weiteren unterscheidet Stachowiak folgende Modellarten:
- Dynamische Modelle, bei welchen sich die Eigenschaften über die Zeit ändern.
- Kybernetische Modelle, welche die Resultate wieder als neue Eingabewerte übernehmen sowie
- Simulationsmodelle, bei denen die Eingabewerte verändert werden, um das Verhalten des Modells unter verschiedenen Ausgangslagen beobachten zu können.
Mit den drei Merkmalen von Modellen und den drei Modellarten können gemäss meinen Erfahrungen alle Digitalisierungsaufgaben untersucht und weiterentwickelt werden.

Computare?
Ich weiss, Mathematik und deren Übertragung in den Alltag, das Rechnen, ist nicht überall gleich beliebt. Das zeigt auch eine Umfrage der deutschen Körber-Stiftung aus dem Jahre 2020. Aber leider funktioniert die Digitalisierung ohne rechnen nicht, was auch Nassehi in seiner Verdoppelung-der-Welt-Theorie zeigt: Daten werden in Beziehung zueinander gesetzt und es werden daraus neue Daten berechnet. Nur, oft rechnen wir intuitiv oder wir vergleichen, wir ordnen und wir finden ein vielleicht auch bewährtes und somit asymmetrisches Gleichgewicht. So ist auch der goldene Schnitt ein Verhältnis von Zahlen, er kann aber von Fachpersonen mit Erfahrung optisch angewendet werden, ohne dass eine Berechnung stattfinden muss, wenn alles zusammen betrachtet wird. Der österreichisch-amerikanische Physiker und Philosoph Heinz von Foerster (1911 – 2002) hat das Thema 1983 an den St. Galler Forschungsgesprächen über „Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich“ auf den Punkt gebracht, als er der Wortbildung «rechnen» auf den Grund gegangen ist:
Als erstes darf ich Sie daran erinnern, daß die etymologische Wurzel des englischen Wortes für «Rechnen», «computation», oder für «Rechner», «computer», die Operationen des Rechnens in keiner Weise auf numerische Ausdrücke beschränkt. Das Wort «computer» bzw. «computation» besteht aus dem lateinischen «com» = «zusammen» und «putare» = «betrachten», bedeutet also «Dinge zusammen betrachten».
Zudem komme das deutsche Wort «rechnen» …
…von einem im Hochdeutschen nicht mehr vorhandenen Adjektiv, das «ordentlich», «genau» bedeutet. «Rechnen» heißt also im Deutschen ursprünglich «in Ordnung bringen», «ordnen». Dazu gehört u. a. auch «Rechenschaft» und «Recht».
Und so ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass die Digitalisierung heute unseren Alltag so stark prägt, denn von Foerster meint weiter:
Und es gibt natürlich keine Grenzen bezüglich der «Dinge», die man «betrachten» kann, und daher werde ich den Ausdruck «rechnen» in diesem allgemeinen Verständnis benutzen.
Und das werde auch ich tun, wenn ich im dritten Teil diese Serie die Möglichkeiten von Parametern und Komponenten als Umsetzungsbeschleuniger für die Anwendung des Grundbausteins «perturbierte Rekursion» bei Digitalisierungsaufgaben betrachten werde.
Das digitale Fundament für Führungsleute |
1 Wider die digitale Machtlosigkeit (buildup-Magazin 2/2021) |
2 Die Macht der Rekursion und die Rolle der Mathematik (3/2021) |
3 Parameter und Komponenten als Umsetzungsbeschleuniger (4/2021) |
4 Der Weg zum wirksamen Lebenszyklus von digitalen Lösungen (1/2022) |
Quellen:
- Andersen Peter Bøgh: WWW as a self-organizing system, in: Cybernetics & Human Knowing, Volume 5, Number 2, 1998, p. 5-41(37)
- Baecker Dirk: 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt, Merve Verlag, Leipzig 2018
- Baecker Dirk: Wozu Theorie? Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 2016
- Foerster, von, Heinz: Wissen und Gewissen, Versuch einer Brücke, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 1993 (2016)
- Körber-Stiftung: Hass- oder Lieblingsfach? So denken die Deutschen über Mathematik, Umfrage der Körber-Stiftung und der ZEIT, 15.10.2020
- Malik Fredmund: Führen Leisten Leben, Wirksames Management für eine neue Welt, Campus, Frankfurt / New York 2019
- Nassehi Armin: Muster, Theorie der digitalen Gesellschaft, C.H. Beck, München 2019
- Stachowiak Herbert: Allgemeine Modelltheorie, Springer, Wien und New York 1973
- Wiederkehr Urs: Digitale Transformation – Geschäfts- schlägt Digitalisierungsverständnis, in: buildup-Magazin, Sonderausgabe buildup-Kongress, buildup AG, Zürich 2021,
- Datenaufbereitungen, O’Reilly, dpunkt, Heidelberg 2019
- Diverse punktuelle Ergänzungen und Querkontrollen aus Gabler-Wirtschaftslexikon (https://wirtschaftslexikon.gabler.de/), Duden, Wikipedia und Archiv Urs Wiederkehr
Dr. Urs Wiederkehr (*1961), Dipl. Bau-Ing. ETH/SIA, ist Leiter des Fachbereichs Digitale Prozesse auf der Geschäftsstelle des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA.
Artikel vom 1.12.2021