«Es ist ein schönes Projekt», sagte alt Bundesrätin Simonetta Sommaruga (SP) im März vor vier Jahren im Ständerat. Drei Monate später bewilligte das Parlament knapp 13 Milliarden Franken für den Bahn-Ausbauschritt 2035. Der Bund versprach mehr Halbstunden- und Viertelstundentakte, mehr Kapazität auf der Schiene und eine bessere Erreichbarkeit vieler Regionen. Nun zeigt sich: Das versprochene Angebot lässt sich nicht umsetzen. Stattdessen braucht die Bahn mehr Geld, Infrastruktur und Zeit.
Dass es zu einer «Konsolidierungsphase» kommt, musste das Bundesamt für Verkehr (BAV) schon letztes Jahr einräumen. Nun ist auch klar, wieso: Die Planer der zuständigen SBB trafen zu optimistische Annahmen. Das zeigt ein diese Woche veröffentlichter Bericht des BAV. Demnach haben die SBB im Jahr 2021 noch einmal nachgerechnet, ob sich das mit den Ausbauten geplante Angebot überhaupt umsetzen lässt. Das Fazit: Nein, lässt es sich nicht. Dafür gibt es mehrere Gründe:
- Die geplanten Fahrzeiten seien in den zuvor verwendeten Planungstools «zu wenig realitätsnah hinterlegt» gewesen: «Sie waren zu wenig nahe an den im operativen Betrieb erreichbaren Fahrzeiten.»
- Die Zugfolgzeiten – also der Abstand, in dem zwei Züge dasselbe Gleis befahren können – wurden «zu knapp hinterlegt».
- Die Infrastrukturen in den grossen Knotenbahnhöfen, zu denen etwa Zürich HB, Bern oder Olten gehören, wurden «mit zu viel Angebot beplant». Will heissen: So viele Züge, wie dort ab 2035 fahren sollen, sind kaum möglich.
- Die «Einbruchsverspätungen von internationalen Verkehren», also die Folgen von verspäteten Zügen aus dem Ausland, wurden «nicht genügend berücksichtigt».
Die Konsequenzen der zu optimistischen Annahmen sind gross. Das geplante Angebot, so zeigt die neue Berechnung, könne nur mit «unbefriedigender Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit» angeboten werden. Im Fernverkehr rechnen die SBB mit einer Pünktlichkeit von 85 Prozent, in gewissen Regionen gar nur mit 79 Prozent. Besonders betroffen wären vor allem die Strecken Solothurn–Lausanne, Brig–Lausanne, Bern–Lausanne, Bern–Thun, Basel–Brugg, Zürich–Winterthur–St. Gallen, Zürich–Schaffhausen und Chiasso–Arth-Goldau.
Deshalb muss korrigiert werden. Ohne zusätzliche Massnahmen wäre «nur ein reduziertes Angebotskonzept möglich», heisst es im Bericht. Das würde bedeuten:
- Die Fahrzeiten auf einzelnen Strecken wären länger.
- Umsteigebeziehungen – also attraktive Fahrten mit einem Zugwechsel – wären «nicht realisierbar».
- Einzelne Züge wären «nicht fahrbar», müssten also gestrichen werden.
- Auf einzelnen Linien müsste «nicht adäquates Rollmaterial eingesetzt werden» – vorstellbar sind etwa S-Bahn-Züge auf Fernverkehrsstrecken, weil diese schneller beschleunigen.
Bis 2035 lässt sich das Problem nicht beheben. Nur schon die Umsetzung der bereits beschlossenen Massnahmen dürfte länger dauern: Die SBB rechnen mit einer Verzögerung von drei bis fünf Jahren. Erst 2040 könnten also für den Ausbauschritt 2035 beschlossene Infrastrukturen fertiggestellt werden. Diese Verzögerungen werden auch mit «zusätzlich identifizierten Risiken» wie dem Fachkräftemangel begründet.
Zudem weisen die SBB auf komplexe Projekte, die Kumulation von Baustellen sowie Verzögerungen in der Planung oder Bewilligung hin. Das ergebe sich aus der gleichzeitigen Umsetzung verschiedener Ausbauprogramme, sagt Sprecher Martin Meier. Er nennt das 2009 beschlossene Programm ZEB («Zukünftige Entwicklung der Bahninfrastruktur»), die Ausbauschritte 2025 und 2035 und den nötigen Unterhalt. «Die Folgen sind bereits heute ein teilweiser instabiler Betrieb mit Baustellenfahrplänen sowie Einschränkungen des Angebots und der Kapazität».
Im nächsten Ausbauschritt, den der Bundesrat 2026 dem Parlament unterbreiten will, wird es vor allem darum gehen, zusätzliche Infrastrukturen zu bauen, um das geplante Angebot des vorherigen Ausbauschritts umsetzen zu können. «Auf die Prüfung neuer Angebotsziele wird verzichtet», heisst es (siehe Box).
Wie konnte es dazu kommen, dass einem 13 Milliarden Franken schweren Ausbauprogramm fehlerhafte Annahmen zugrunde gelegt wurden? BAV-Sprecher Michael Müller sagt, die Planungsgrundlagen für den Ausbauschritt 2035 seien im Jahr 2014 publiziert worden und entsprächen «dem damaligen Stand der Technik und des Wissens».
Es braucht mehr Geld
Darauf berufen sich auch die SBB. Seit 2019 könnten aber durch in Fahrzeugen installierte Energiemesszähler die tatsächlich gefahrenen Fahrlagen – also vereinfacht gesagt die Zeiten, in denen Züge Strecken zurücklegen – mit den 2014 berechneten theoretischen Werten verglichen werden, sagt Sprecher Meier. «Umfassende Analysen haben gezeigt, dass die bisher berechneten technischen Fahrzeiten in der Realität nicht erreicht werden. Die neu berechneten Fahrzeiten bilden die effektive Fahrweise präziser ab.»
Bei Bahnausbauten handle es sich um eine rollende Planung. Wenn die SBB vom Ausbauschritt 2035 sprächen, sei damit «ein Zeithorizont und keine fixe Jahreszahl gemeint». Nur: Im Parlament hatte Simonetta Sommaruga im Jahr 2019 noch gesagt, das Konzept sei «im Zeitraum bis 2035 realisierbar».
Welche Infrastrukturen es im nächsten Ausbauschritt braucht, um doch noch das versprochene Angebot umzusetzen, ist noch nicht klar. Das BAV hat mit der Planung Anfang dieses Jahres begonnen. Sicher ist: Mit dem Jahr 2035 wird der Ausbauschritt 2035 wenig zu tun haben – und den 13 Milliarden Franken dürfte ein substanzieller Betrag folgen, um das «schöne Projekt» ins Ziel zu bringen.