Gross und fett waren sie, die Schlagzeilen über eine Strommangellage, Stromkontingentierungen und Netzabschaltungen. Erst ein halbes Jahr ist es her, dass die Schweiz und Europa befürchteten, den Winter frierend und im Dunkeln verbringen zu müssen. Nun steht der Wonnemonat vor der Tür, und die kalte Jahreszeit neigt sich definitiv ihrem Ende entgegen. Obwohl, so kalt war dieser Winter übers Ganze betrachtet ja gar nicht. Und das war ein grosser Glücksfall! Denn entsprechend gering blieben der Heiz- und damit auch der Energiebedarf. Wäre der Winter seinem Namen gerecht geworden, wären wir möglicherweise nicht derart glimpflich davongekommen.
Es wäre indes falsch, die warnenden Worte des Verbandes Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE), der Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen (OSTRAL) und des Bundes nun als blosse Unkenrufe abzutun. Das Risiko einer Strommangellage im Winter 2022/23 war real und gross – und das ist es auch für den nächsten Winter. Zudem: Das Wetter wird nicht jeden Winter so mild sein wie im Winter 2022/23. Denn nach wie vor ist die Schweiz im Winter Netto-Stromimporteurin, weil sie während der Monate Februar bis April nicht in der Lage ist, ausreichend Strom aus einheimischen Energiequellen zu produzieren. Der dafür nötige Ausbau von Solarstromanlagen und Windkraftwerken hinkt den Bedürfnissen hinterher respektive wird auf institutionellen Wegen blockiert.
Weil der Bedarf nach Strom mit fortschreitender Dekarbonisierung des Verkehrs und des Heizens künftig stark zunehmen wird, besteht also dringender Handlungsbedarf. Der VSE hat in seiner Studie «Energiezukunft 2050» gemeinsam mit der Empa verschiedene Szenarien untersucht, wie die Energieversorgung der Schweiz bis 2050 aussehen könnte. Das Fazit ist eindeutig: Ohne massiv beschleunigten Zubau, massive Steigerung der Effizienz, fokussierten Um- und Ausbau der Netze sowie einen engen Energieaustausch mit Europa wird die Schweiz ihre Energie- und Klimaziele nicht erreichen.
Innerhalb des letzten Jahres ist das Thema Versorgungssicherheit definitiv in den Fokus von Politik und Öffentlichkeit gerückt. Um diese Versorgungssicherheit zu gewährleisten, braucht es neben dem Ausbau der Produktion auch ein Netz, das den Strom transportiert und verteilt. Nun stammt unser Netz aus einer Zeit, in der grosse, zentrale Kraftwerke Strom produzierten, welcher anschliessend über mehrere Netzebenen zu den Endverbrauchern gelangte. Dieses Netz ist nicht darauf ausgelegt, all die künftigen Lastflüsse, zum Beispiel aus der Rückspeisung von privaten PV-Anlagen oder aus bidirektionalen Anwendungen von E-Fahrzeugen, zu schlucken. Hinzu kommt, dass all die neuen, dezentralen Produktionsanlagen auch einen Netzanschluss brauchen, damit nicht vor Ort verbrauchter Strom ins Netz eingespeist werden kann. Das bestehende Netz muss daher dringend ausgebaut, den Bedürfnissen der neuen dezentralen Strukturen angepasst und modernisiert werden. Dafür braucht es einen veritablen «Netzexpress».
Auch wenn die Strommangellage im vergangenen Winter ausblieb und stets genügend Strom verfügbar war, war keineswegs «alles nur halb so schlimm», sondern uns wurde bloss etwas zusätzliche Zeit geschenkt. Nutzen wir sie, um unser System den neuen Realitäten anzupassen und das Risiko einer Strommangellage auf ein Minimum zu reduzieren. Gewiss, die Vorbereitungen und Pläne für den vergangenen Winter werden uns auch im kommenden Winter zugutekommen. Aber unser Ziel muss sein, einen Punkt zu erreichen, an dem wir uns über das Thema Strommangellage gar nicht mehr unterhalten müssen. Die Richtung ist klar. Jetzt heisst es: Fahrt aufnehmen!